Raphael Brunner von der Tageszeitung «Der Zürcher Oberländer» hat am 10. März 2016 über Infostand-Kampagnen in Uster berichtet.
Marcel M. sieht sie schon von Weitem. Wie immer stehen sie direkt vor der Unterführung. Kurz verzögert er den Gang, dann marschiert er umso entschlossener weiter, den Blick auf den Boden gerichtet. Entkommen aber kann er nicht. «Entschuldigen Sie kurz: Sie sehen aus, als würden Sie gerne helfen», spricht ihn die junge Frau in der blauen Jacke an, auf der der Schriftzug des Schweizerischen Gehörlosenbunds prangt. «Danke, nein», presst M. zwischen den Zähnen hervor und beschleunigt seinen Schritt noch ein bisschen mehr. «Trotzdem einen schönen Tag», ruft ihm die Frau nach.
Es ist eine Szene, wie sie sich an Schweizer Bahnhöfen täglich abspielt. Am Ustermer Bahnhof, dem grössten in der Region, besonders häufig: Mitarbeiter von sogenannten Fundraising-Unternehmen sammeln Spenden für Hilfswerke. «Face to Face – von Person zu Person» nennt sich die Art, bei der Leute andere Leute direkt auf der Strasse ansprechen. «Mich nervt dieser Spiessrutenlauf», sagt M. Er wisse schon, dass Hilfsorganisationen auf Spenden angewiesen seien. «Manchmal habe ich aber das Gefühl, man kann nicht mehr auf den Zug gehen, ohne irgendwelche Leute abwimmeln zu müssen.»
Der Ustermer Ende 30 ist nicht der Einzige, der so denkt. Manche machen ihrem Ärger deutlich aggressiver Luft. «Abfahren», knurrt ein älterer Herr, als sich ein junger Mann mit blauer Jacke ihm nur nähert. Wieder andere verstehen solche Schroffheit nicht: «Mich stört das überhaupt nicht, ich habe auch schon gespendet, wenn mir das Projekt gefiel», sagt eine junge Lehrerin. Eine ältere Frau sagt: «Wenn die jungen Leute so freundlich sind wie diese hier, dann finde ich das absolut in Ordnung. Allerdings kann ich verstehen, dass sich jemand gestresst fühlt, wenn er jeden Tag angesprochen wird.»
Wer wie oft an einem Bahnhof Spenden sammeln darf, bestimmen die SBB. Auf anderen öffentlichen Plätzen in Uster ist es die Verwaltungspolizei. «Pro Woche vergeben wir an maximal zwei Tagen einen Platz für Fundraising-Zwecke. Das gilt für alle Bahnhöfe», sagt SBB-Sprecher Reto Schärli. Anita Keller von der Verwaltungspolizei Uster sagt: «Wir schauen, dass an einem Platz nicht mehr als eine Aktion pro Woche durchgeführt wird.» Vor allem für die SBB ist es lukrativ, ihre stark frequentierten Plätze für kommerzielle Aktionen zur Verfügung zu stellen. Für eine ganztägige Aktion am Bahnhof Uster etwa verlangen sie 450 Franken. «Wir bieten an bester Lage wertvolle Möglichkeiten für Fundraising an», sagt Schärli. Hilfswerke bezahlen damit deutlich weniger als kommerzielle Anbieter. «Die SBB anerkennen die ideellen Zwecke dieser Organisationen.» Die Stadt Uster verlangt für eine gemeinnützige Sammelaktion inklusive Info-Stand zwischen 30 und 60 Franken am Tag.
Sowohl die SBB wie die Ustermer Verwaltungspolizei betonen, dass es nur äusserst selten zu Klagen über Spendensammelaktionen komme. Die SBB erteilen den Organisationen verschiedene Auflagen, zu denen auch Verhaltensregeln gehören. «Ablehnende Gesten oder ein ‹Nein danke› von Passanten sind zu respektieren», sagt Schärli. Die Verwaltungspolizei führt zur Überprüfung sporadische Kontrollen durch. «Einmal mussten wir einen Spendensammler zurechtweisen», sagt Anita Keller. Die meisten würden sich jedoch tadellos verhalten. Schliesslich sei eine gute Wahrnehmung in der Öffentlichkeit auch im Interesse der Organisationen, für die gesammelt werde.
«Setzen keinen Druck auf»
Gleich argumentiert Bernhard Bircher-Suits, Sprecher der Firma Corris. Sein Unternehmen ist der grösste Anbieter solcher Standkampagnen in der Schweiz – unter anderem führte es auch die Spendensammelaktion für den Gehörlosenbund am Ustermer Bahnhof durch. «Ein schlechtes Image ist das Letzte, was unsere Kunden wollen», sagt er. Die sogenannten Dialoger, die im Namen eines Hilfswerks Passanten ansprechen, würden sorgfältig geschult – sowohl durch Corris als auch durch die Hilfswerke. Es gebe einen Verhaltenskodex und klare Regeln. «Unsere Coachs sind zudem täglich vor Ort, um die Mitarbeiter zu betreuen und sie falls nötig auf ein falsches Vorgehen hinzuweisen.» Die Spendensammler von Corris stehen durchaus unter Leistungsdruck. Das auf Profit ausgerichtete Unternehmen muss für die Hilfswerke genügend Geld generieren, damit das Engagement einer Fundraising-Firma sich auszahlt. Dazu kommen die Kosten für die Bewilligungen, das Material und die Administration, die gedeckt werden müssten. Im Durchschnitt sollte ein Dialoger darum rund fünf «Abschlüsse» pro Tag erzielen – damit sind Personen gemeint, die sich zu einer regelmässigen Spendenzahlung verpflichten. «Wir setzen unsere Mitarbeiter aber nicht unter Druck, das würde nichts bringen», sagt Bircher-Suits. Ebenfalls sei es nicht im Sinn der Hilfswerke, wenn Dialoger Leute einen Spendenauftrag aufschwatzten. «Dann stornieren sie die Zahlung nach einer Woche wieder.»
Tätliche Übergriffe
Bircher-Suits räumt ein: «Es wird immer einen gewissen Prozentsatz an Personen geben, die sich durch unsere Aktionen belästigt fühlen.» Gleichzeitig hält er fest, dass eine grosse Mehrheit der Leute die Arbeit von Hilfswerken ideell unterstütze – «und dafür benötigen diese nun mal Geld, das irgendwie generiert werden muss». Kein Verstädnis hat Bircher-Suits darum für Leute, die aggressiv auf die Präsenz der Corris-Mitarbeiter reagieren. Das komme durchaus vor. «Ich wage zu behaupten: viel öfter, als sich jemand von uns unangemessen verhält.» Vor allem Spendensammlerinnen würden immer wieder sexistisch beleidigt, Dialoger mit Migrationsherkunft müssten rassistische Sprüche ertragen. Das berichtet auch Janny Nuñez, die seit drei Monaten für Corris Spenden sammelt (siehe Interview). Sogar tätliche Angriffe seien schon vorgekommen. «Hier handelt es sich um junge Leute, die ihre Arbeit verrichten, und das letztlich für einen guten Zweck. Das sollten auch genervte Passanten im Hinterkopf behalten.»
Wie wichtig die direkte Kontaktaufnahme von Person zu Person im Fundraising ist, bestätigt Roland Wagner, Leiter Kommunikation beim Schweizerischen Gehörlosenbund. «Wir machen rund einen Drittel unserer Einnahmen mit dieser Spendenmethode. Dieser Kanal ist für uns der wichtigste, vor Spendenbriefen und Telefon-Fundraising.» Mit Info-Stand-Kampagnen könne seine Organisation zudem die eigene Bekanntheit steigern und direkt mit der Bevölkerung interagieren. «Die Spendensammler auf der Strasse geben unserem Anliegen ein Gesicht.» Raphael Brunner
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Hilfswerke engagieren Profis
Unter Fundraising versteht man die Mittelbeschaffung für gemeinnützige Organisationen – zum Beispiel Hilfswerke. Die Fundraising-Arbeit verrichten dabei oft Unternehmen, die profitorientiert arbeiten. Bei den meisten Spendensammlern, die an Schweizer Bahnhöfen anzutreffen sind, handelt es sich um Mitarbeiter der Firma Corris. Das 1995 gegründete Unternehmen ist einer der grössten Anbieter von Fundraising-Dienstleistungen hierzulande. Corris generiert Mittel für über 30 Organisationen, darunter für den WWF, die Helvetas oder den Verkehrsclub Schweiz (VCS). Die Aktiengesellschaft beschäftigt pro Jahr rund 1000 Aussendienstmitarbeitende – der Grossteil davon sind Dialoger. So hat die Agentur für ihre Auftraggeber in den vergangenen Jahren über eine Million neue Spender gewonnen. Für viele Hilfswerke scheint sich die Vergabe der Mittelbeschaffung an eine externe Firma zu lohnen – selbst wenn diese daraus Gewinn abschöpft. So setzt auch der Schweizerische Gehörlosenbund auf die Dienste von Corris, unter anderem auch in Uster. «Wir wären schlicht zu klein für diese Arbeit», sagt Sprecher Roland Wagner. Corris mache Info-Stand-Kampagnen für viele Auftraggeber und könne deshalb die hohen Kosten für Administration, Personal oder Qualitätssicherung aufteilen, sodass das einzelne Hilfswerk weniger bezahlen müsse. «Es gibt nur sehr wenige grosse Non-Profit-Organisationen, welche diesen hohen Aufwand selber in Kauf nehmen.» (rbr)