Diese Studierenden gehören zu den Besten – und sie haben Berufe, in denen sie viel Geld verdienen. Einen Grossteil davon spenden sie. Ein lesenswerter NZZ-Campus-Artikel.
Am Tag, an dem Adrian Hutter die Entscheidung seines Lebens trifft, ist der New Yorker Himmel klar und zum Greifen nah. Es ist der 21. Oktober 2015, als er das IBM-Forschungszentrum in Upstate New York verlässt. Er sagt: «Es gibt Wichtigeres als die Quantenphysik.» Hutter, der an der Universität Basel vor kurzem erst seine Doktorarbeit zu Quantum Computing erfolgreich verteidigt hat, will nicht in der Forschung bleiben. Lieber möchte er Gutes bewirken und möglichst bald viel Geld spenden. Quit physics before it is too late, das sagen sich Physiker manchmal im Witz. Hutter macht Ernst und geht nach London zu einer Firma, deren Name hier nicht genannt werden darf. Als «Quant», so nennt man diese Leute im Berufsjargon, versucht Hutter, mittels Data-Mining Signale in riesigen Datenmengen zu finden. Sein Gehalt ist von Anfang an sechsstellig. Bald wird er mehr verdienen als ein ordentlicher Physikprofessor, der etwa 200’000 Franken bekommt.
Der 29-jährige Hutter hat es drauf, aber er ist viel zu bescheiden, das zuzugeben. Der Physiker redet nicht gerne über sich. Seine Auszeichnungen aber lassen sich sehen: Hutters Doktorarbeit an der Universität Basel wurde mit summa cum laude bewertet. Für sein Vorhaben im Master, die Balzsprache der Drosophila-Fliege zu analysieren, erhielt er ein Exzellenzstipendium und zusätzliche Unterstützung von der ETH. Schon vor dem Master: Förderung durch die Schweizerische Studienstiftung, eine Organisation für begabte und verantwortungsbewusste Studierende. Hutter kümmert das alles wenig, seine Interessen sind ihm wichtiger als seine Erfolge. Zum Beispiel der effektive Altruismus. Diese Bewegung sagt Hutter zu, weil sie gute Gründe mit Empathie und Wissenschaft vereint und Verantwortung übernimmt. Sie passt zu Hutter. Physikerkollegen und andere, die ihn gut einschätzen können, sagen, Hutter hätte tatsächlich gute Chancen auf eine erfolgreiche Universitätskarriere gehabt. Sein Professor bedauert sowieso jeden Verlust an die Finanzbranche, das gibt er offen zu. Aber für Hutter gab es am Ende mehr Gründe zu gehen, als zu bleiben: «Die Finanzbranche ist der sicherere Weg, um schnell und langfristig mehr Geld zum Spenden zu verdienen», sagt der Physiker. Die Tech-Firma sagte ihm mehr zu als das IBM-Forschungszentrum. London sei aufregender als Upstate New York. Hutter möchte lieber näher bei seiner Freundin und dem sozialen Umfeld bleiben. Für ihn zählen persönliche und berufliche Gründe – und der soziale Impact.
Wir arbeiten 80’000 Stunden
Der soziale Impact ist das Produkt aus der Anzahl Menschen, denen man hilft, und dem Ausmass, in dem man hilft. So rechnet 80,000 hours, eine Organisation, die Tipps für die Berufswahl mit Impact gibt. Die Organisation steht auch mit dem effektiven Altruismus in Verbindung. 80’000 Stunden arbeitet der Mensch durchschnittlich in seinem Leben, da sollte man sich gut überlegen, ob man die Zeit lieber im Labor oder an der Börse verbringt.
Als Studienabgänger eines Entwicklungslandes habe man mit der richtigen Karrierewahl die Chance, «Hunderte von Menschenleben zu retten und bedeutsame Veränderungen für Hunderte andere Menschen zu bewirken», heisst es auf der Website der Organisation. Dank 80,000 hours erfährt Adrian Hutter, dass er mit seiner Ausbildung und seinen Fähigkeiten die seltene Möglichkeit hat, einen extrem hoch bezahlten Beruf anzunehmen. Er könnte ein «Quant» werden und das Geld zu grossen Teilen spenden. Für Hutter ist es einleuchtend; er kann mit seiner Ausbildung viel verdienen, also tut er es. Earning to give – Geld verdienen, um es zu spenden – ist laut 80’000 hours eine Möglichkeit unter vielen, einen hohen sozialen Impact zu erreichen. Je nach Einkommen und den persönlichen Lebensumständen verzichten professionelle Spender wie Hutter auf zwischen 10 und 80 Prozent ihres Lohns und spenden das Geld für Entwurmungen, Malariaprävention oder andere wichtige Zwecke. In der Schweiz machen das zurzeit etwa 60 Personen, weltweit sind es rund 1500. Hutter glaubt, man ertrage alles Leid und Elend in der Welt nur darum, weil es sich so weit ausserhalb des eigenen Gesichtsfeldes zutrage. «Wenn es nicht so einfach wäre, das Leid im Alltag zu vergessen, dann hätten wir alle mehr das Bedürfnis zu helfen», sagt er. Verantwortung müsse sich zwar nicht im Spenden äussern, aber für ihn sei es eine naheliegende Möglichkeit zu helfen.
Mehrere 10 000 Franken pro Jahr
Man muss schon ein Nerd sein, um ins quantitative Trading zu gehen. Die Stellen sind rar und begehrt. Auf glassdoor, einer Website, auf der man sich über Unternehmen informieren kann, findet man über 600 Berichte von Hochschulabgängern, die eine Anstellung in dieser Firma angestrebt haben, aber abgelehnt wurden. Hutters Arbeitskollegen haben in Mathematik, Physik oder Informatik promoviert. Es gibt das Gerücht, dass die Hälfte der amerikanischen Mathematikolympiade-Teilnehmer bei dieser Firma einsteigt. Aber selbst die Nerds blicken nicht ganz durch, was sie den ganzen Tag vor ihren Rechnern treiben. Sie stochern im Dunkeln von riesigen Datenmengen und schrauben so lange an Parametern herum, bis der Gewinn gross und das Risiko klein ist. Der Teufel liegt im Detail: Ein guter Quant verrät nicht, wo exakt er schraubt. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand wie Hutter Physikprofessor wird, ist ziemlich sicher höher als die, dass er bei dieser Firma landet. Aber Hutter hat es geschafft. Er könnte bald mehr als ein Professor verdienen und so viel Geld spenden, dass man anfangen muss, die Nullen zu zählen. Im Moment gibt er mehrere zehntausend Franken jährlich weg; wenn es geht, sollen es bald mehr sein. Es sieht gut aus.
Heiligt der Zweck die Mittel?
Ist eine Tätigkeit als Quant im Vergleich zur Wissenschaft wirklich die moralisch bessere Option? «Es stellt sich die Frage, ob ein Geschäft oder ein Beruf überhaupt an sich unmoralisch sein kann oder ob es darum geht, welchen Zweck man damit verfolgt», sagt Michael Heumann, wissenschaftlicher Assistent am Institut für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen. «Wenn man aber wüsste, dass wegen einer geschäftlichen Transaktion eine Person instrumentalisiert wird, vielleicht sogar bis zum Tod, dann geht das nicht. Der Zweck heiligt die Mittel nicht.» Im quantitativen Trading sei das Geld in besonderer Art von der Realwirtschaft entkoppelt. Diese Entfremdung mache es schwierig, die Folgen dieser Tätigkeit für Menschen abzuschätzen. «Es geht ja auch um die Rezeptur des Kuchens, nicht nur darum, wie man ihn nachher verteilt. Im quantitativen Trading kennt niemand mehr die genaue Rezeptur. Niemand weiss, wie sich diese auf Algorithmen beruhenden Transaktionen auf die Menschen auswirken. Für eine vollständige ethische Bewertung ist das problematisch.» «Mein Beruf ist nicht unmoralisch», sagt Hutter. «Auch wenn er tatsächlich zweifelhaft wäre, dann müsste man darauf achten, wie viel Gutes man damit bewirken kann.» Man komme nicht darum herum abzuwägen. Das fange beim Fliegen an und gehe weiter beim Kauf von Elektronikprodukten oder T-Shirts, die unter zweifelhaften Bedingungen hergestellt werden. Was selbstredend nicht heisse, dass man aufhören sollte, Schlechtes zu verbessern. Eine Stelle, die viel Gutes ermögliche und wenig schade, sei eine kluge Wahl.
Geld ausgeben für Fremde?
Die Protagonisten dieser Geschichte wollen alle Gutes tun, aber sie stossen dabei auch auf Unverständnis. Geld für seine Nächsten zu wollen, das ist natürlich. In der Nähe lohnt es sich, wenn man sich kümmert, vielleicht kommt es ja einmal zurück. Der Fremde aber erwidert nichts, wieso sollte man ihm Geld geben? Spenden ist eine einseitige Angelegenheit, retour kommt nur die Spendenbestätigung. Neben Hutter erzählen drei andere von ihren Berufsentscheidungen. Alle gehen vorsichtig mit dem Thema um. Eine Pflicht zu spenden gebe es nicht, da sind sie sich einig. Aber wenn man sich von guten Gründen leiten lasse, dann sei es nur logisch, sich konsequent mit der Frage auseinanderzusetzen, wie man am meisten bewirke auf dieser Welt. Und ohne Geld laufe nun mal nichts. Noëmi Erig trifft man in Zürich an. Weil die Gründe gestimmt hätten, hätte die 30-Jährige gerne viel Geld gespendet. Mitten in der Lernphase vor der Anwaltsprüfung stösst sie auf den effektiven Altruismus und als Teil davon auch earning to give. Erig war sofort klar, wie sie viel verdienen könnte. Wirtschaftskanzleien zahlen gut. Ihr Jahr als Substitut vor der Anwaltsprüfung absolvierte Erig in einer solchen Grosskanzlei, glücklich war sie nicht. Eine andere Lösung musste her, eine bessere. Sie entschied sich gegen eine Spenderkarriere in grösserem Stil. Als Wirtschaftsanwältin hätte sie zwar mehr Geld zum Spenden, aber die Arbeit würde sie nicht lange aushalten. «Es wäre keine nachhaltige Entscheidung», sagt sie, die jede Frage wohlüberlegt und vorsichtig angeht. Darum wählte Erig die selbständige Anwaltstätigkeit im Bereich Migrations-, Familien- und Strafrecht. Für diese Themen kann sie sich täglich begeistern, und die Lebensqualität im Alltag stimmt.
Es ist eine nachhaltige und elegante Lösung, weil Erig so direkt und indirekt helfen kann: Unmittelbar hilft sie mit ihrer juristischen Arbeit, indirekt durch das Spenden. Im Moment gibt sie 10 Prozent ihres Einkommens weg und wird in den nächsten Jahren, abhängig davon, wie sich ihre Selbständigkeit entwickelt und ob sie Kinder haben wird, bis zu 50 Prozent ihres Verdienstes spenden. Es erleichtert sie, dass man die Forschung zu der Frage hinzuziehen kann, wie man am effizientesten hilft. Die Wissenschaft gibt Halt. Wie andere effektive Altruisten orientiert sich auch Erig für ihre Spenden am Hilfswerk-Evaluator GiveWell.
Mehr Leben retten
Auf wissenschaftliche Analysen will auch Jonas Vollmer nicht verzichten. «Untersuchungen zeigen, dass Ärzte während ihres Arbeitslebens durchschnittlich 20 Menschenleben retten», sagt der Geschäftsleiter der Stiftung für effektiven Altruismus in Basel. Das Gleiche könne man mit einer Spende von 50’000 Franken an die richtige Organisation bewirken; schliesslich könne man in einem Entwicklungsland mit gleich viel Geld mehr Leben retten. «Distanz entbindet nicht von der Verantwortung», sagt Vollmer. Der 24-Jährige arbeitet fünfzig Stunden wöchentlich zu einem Monatslohn von 2500 Franken. Als Geschäftsleiter bei der gemeinnützigen Stiftung hat er zwar nur wenig Geld, dafür viel Verantwortung und eine klare Mission. Die Stiftung richtet selbst Spenden aus, bietet Berufs- und Spendenberatung an und unterstützt Freiwillige in ihrer politischen Arbeit. Vollmer sei immer klar gewesen, dass er jemand sein möchte, der seine Überzeugungen und Handlungen anpasst, wenn er mit neuen schlüssigen Argumenten konfrontiert wird. Weil er in der Stiftung mehr würde bewirken können, hängte er nach dem Bachelor sein Medizinstudium an den Nagel. Seinen Studienplatz und seine zukünftige Position als Arzt könne jemand anderes übernehmen, in diesem Beruf sei er leichter ersetzbar als in seiner neuen Rolle, sagt er.
Schoggigpfeli und entwurmen
Wer die grossen Hebel bewegen will, braucht Geld. Das Dilemma ist programmiert, wenn man sich auch für Fremde verantwortlich fühlt. Das Schoggigipfeli kostet 2 Franken 50, mit dem Geld kann man fünf Kinder in einem Entwicklungsland entwurmen – was tun? «Gegen die Überforderung hilft nur eine klare Strategie», sagt Rita Fleer. Die 23-jährige Meiringerin ist viel beschäftigt, sie studiert in Bern VWL im Master und macht gerade eine Mutterschaftsvertretung als Ökonomin. Fleer legt von vornherein fest, wie viel sie spenden wird, im Moment sind es 10 Prozent ihres Gehalts. Diese Strategie nennt sie «budgetieren». Fleer sagt, das Budgetieren rette sie vor unnötigem Alltagsstress. Und Stress sei kontraproduktiv, weil man sich damit überfordere. Man wolle ja motiviert bleiben und wirklich helfen. Manchmal sprechen Arbeitskollegen Fleer auf earning to give an. Dann sagt sie, dass man noch längst nicht auf alles verzichten müsse, nur weil man regelmässig einen Teil seines Lohns spendet. Dass Altruismus und persönliche Bedürfnisse in Einklang zu bringen seien. Für beides könne man ein Budget festlegen. Bei Fleer hat das Spenden zu einem Motivationsschub in Studium und Beruf geführt. Zwar wusste sie schon vorher, dass sie mit ihrem Studium richtig lag, aber der effektive Altruismus und earning to give gaben ihrer persönlichen Entscheidung mehr Bestimmung. Die üblichen Karrieretipps wie «Folge deinen Leidenschaften» oder «Tu, was du gut kannst» waren der Studentin zu unvollständig. Erst die Frage nach dem sozialen Impact gebe eine langfristige Perspektive auf die Berufswahl und erleichtere eine sinnvolle Entscheidung.
«Leidenschaften ändern sich im Laufe des Lebens, sie geben nur kurzfristig Halt», sagt Fleer. Nicht jede Leidenschaft könne zum Beruf gemacht werden, und neue Fähigkeiten müsse man sich sowieso in jedem Beruf aneignen. Darum sei es wichtig, sich gut zu überlegen, wohin man wolle, und seine Talente klug einzusetzen. Fleer hat ein eigenes Credo: «Finde heraus, was deine langfristigen Ziele sind, was auf deinem Grabstein stehen soll. Dann wähle die bestmögliche Strategie, um deine Ziele zu erreichen.» Quelle: NZZ-Campus/ Autorin: Sandrine Gehriger